Bielefeld `66 - `77: Wildes Leben, Musik, Demos und Reformen

tpk-Verlag, Bielefeld 2006

Die 1960er Jahre waren wie kein anderes Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eines der Jugend- und Protestkultur. Sie löste in der westlichen Welt nichts Geringeres als einen gesellschaftlichen Umbruch aus, bewirkte neues Denken und Handeln und veränderte in den folgenden Jahren und Jahrzehnten fast alle Lebensbereiche. In der Bundesrepublik Deutschland konnte man als fassbarsten Ausdruck der allenthalben stattfindenden Debatten eine unvergleichliche Reformwut ausmachen, die einem ersten Höhepunkt in den 1970er Jahren zustrebte.

Es war aber auch eine Zeit, die wie keine andere zur alten Bundesrepublik gehörte und seit der Wiedervereinigung langsam im Nebel der Vergangenheit zu verschwinden scheint. Ein letztes politisches Aufbäumen der Reformpolitiker aus jenen Jahren, der so genannten „Alt-68er“, und gleichzeitig Zenit und Endpunkt dieser Entwicklung war die Ankunft der „Grünen“ 1998 in den Zentren der Macht. Nach ihrer Rückkehr auf die Bänke der Opposition und vor dem Hintergrund permanenter Krisen, vor allem auf dem Arbeitsmarkt, ist spätestens seit 2005 eine schleichende bis offene Revision des Erreichten deutlich erkennbar. Erstaunlicher-weise läuft diese ebenfalls unter dem Oberbegriff „Reform“.

Ludwig Erhard, der „Vater des Wirtschaftswunders“, markierte das Jahr 1966 als definitives Ende der Nachkriegszeit. In der folgenden Dekade bis 1977, dem Jahr, in dem die Bundesrepublik sich endgültig ihrer allzu radikalen Neuerer um die „Rote Armee Fraktion“ samt deren Terrorismus entledigte, avancierte die bisweilen hektische Umsetzung von Reformen zum neuen Evangelium ihrer Betreiber. Erstaunlicherweise bildete aber auch gerade jene Zeit des überbordenden Neuerungswillens das typische „Klein-Klein“ der jungen Bundesrepublik geradezu kongenial ab. Westdeutschland verfügte nach wie vor über eine enorm harte Währung und, trotz Öl- und anderer Krisen, über eine Wirtschaftsleistung, die an dritter Stelle in der Welt rangierte. Dennoch mochten die Deutschen und insbesondere ihre gewählten Vertreter aber irgendwie gar nicht vorhanden sein, wollten sich lieber weiter in die Arbeit flüchten, wie sie es in den Fünfzigerjahren taten und außenpolitisch am liebsten überhaupt nicht in Erscheinung treten, um nicht etwa für so schreckliche Dinge wie Kriege oder Sonstiges von ihren Verbündeten in die Pflicht genommen zu werden. Die Scheckbuchdiplomatie voller Schuldbewusstsein und mit Hinweis auf die eigene, nationalsozialistische Vergangenheit, die keine andere Politik erlaube, hatte Hochkonjunktur. Die Bundesrepublik Deutschland ließ sich in dieser Zeit gern „BRD“, die Deutsche Demokratische Republik „DDR“ rufen. Um das Maß und die Verwirrung um diese zwei Nichtstaaten voll zu machen, traten beide Länder international dann mit den englischen Abkürzungen „FRG“ und „GDR“ auf. Zwei Buchstabenkonstrukte, über die die Geschichte gnädig ihren Mantel gelegt hat.

In Bielefeld, auf kommunaler Ebene, zeigte sich das „Klein-Klein“ der „unauffälligen Re-publik“ oft in zermürbenden Auseinandersetzungen von Vorteilsnehmern, Bedenkenträgern, falschen und wahren Propheten. Es ging um die Realisation von Verkehrsprojekten, allen vor-an der Straßenbau, der unter sozialdemokratischer Ägide seinen größten Ausbau erfuhr. Bielefeld sollte, ähnlich wie Osnabrück, eine vollkommen autogerechte Stadt werden. Es ging aber auch um die Gebietsreform. Viele kleinere Gemeinden, die 1973 endgültig Bielefeld zuge-schlagen wurden, planten kurz zuvor noch kostenintensive und vielfach nutzlose Großprojek-te, die nach der Eingemeindung zu Lasten des Bielefelders Haushalts und dem des Landes gingen. Alle wollten mitreden und sich die größten Vorteile sichern. Scharfe Auseinanderset-zungen gab es um die Universität, um den nie gebauten Regionalflughafen und um ein neues Fußballstadion.

Der soziale Wohnungsbau lief mit seinen Dimensionen aber allen anderen Projekten den Rang ab. Die verantwortlichen Politiker und Architekten verkündeten ihre Überzeugung, dass das Leben sich zukünftig in riesigen Trabantenstädten vor den Toren der Städte und somit auch in Bielefelds Umland abspielen würde, und dass sich die Menschen dort in bis zu zehn Stockwerken hohen schmucklosen Betonbauten angeblich wohl fühlten. Die Planer dieser Steinwüsten fühlten sich dagegen in ihren großflächigen Altbauwohnungen viel wohler. Sie wurden in den 1970er Jahren zu begehrten Objekten. Die Preise für diesen knappen Wohn-raum stiegen in Bielefeld dramatisch an. Nicht zuletzt deshalb, weil man allein für den Bau des Ostwestfalendamms etwa 120 komfortable und wohnbereite Altbauten im Westen der Stadt abriss und damit das Angebot empfindlich verringert hatte.

In den Siebzigerjahren nahmen auch in Bielefeld die kritischen und manchmal hysteri-schen Auseinandersetzungen einer sich verfestigenden Protestkultur mit den Repräsentanten aus Politik und Wirtschaft immer mehr zu. Sind waren am Ende zahllos und arteten oft in Prinzipienreiterei aus, die permanent Sand ins Getriebe der Kommunalpolitik und des städti-schen Lebens streute.

Die bildende Kunst, die Pop- und Rockmusik, der Free-Jazz und die moderne klassische Musik begleiteten diese Achterbahnfahrt der Geschehnisse in der ostwestfälischen Stadt. Sie waren wie ein Vexierspiegel der Verhältnisse. Obwohl bis auf den heutigen Tag viele mit den zeitgenössischen Kunstwerken nicht viel anzufangen wissen. Damals traute man sich nicht, beispielsweise die „Arte Povera“ zu kritisieren, um nicht als Banause eingestuft zu werden. Viele dieser kreativen Äußerungen, insbesondere aber die von Künstlern wie Joseph Beuys, gehören wie die erwähnten Reformen unverbrüchlich zur alten Bundesrepublik. Wie erwähnt, laufen sie momentan Gefahr, in Misskredit und Vergessenheit zu geraten. Ihre damals unbe-dingte Notwendigkeit wird heute gern übersehen.

In dem Buch "Bielefeld `66 -`77: Wildes Leben, Musik, Demos und Reformen" findet nichts Geringeres als eine – partielle – Ehrenrettung der Aktivitäten in Bielefeld von 1966 bis 1977 statt. Auch wenn, das sei an dieser Stelle verraten, die kritischen Punkte überwiegen, so wird doch deutlich , wie essentiell wichtig der Modernisierungsschub dieser Jahre war.